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Irmgard Haferkorn

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04.04.1925 — 30.08.2006
Verstorben im Alter von 81 Jahren
04177 Leipzig, Deutschland

Geburtsort: Leipzig, Deutschland
Firma: PGH “DSF” Chemische Reinigung
Beruf: Textilreinigerin
Friedhof: Leipzig-Lindenau
Religion: keine

Meine Mutter, für die ich hier ein viel zu kleines Denkmal setzen möchte, war eine Frau der Taten. Sie arbeitete gern dafür, dass es ihren Nächsten gut geht und war diejenige, die für familiären Zusammenhalt, gegen Streit und Familienklatsch auftrat. Egoismus und Unehrlichkeit waren ihr ebenso fremd wie für eine Ideologie einzutreten oder an ein imaginäres höheres Wesen zu glauben. Sie vertraute immer zuerst sich selbst und ihrer Schaffenskraft – ein klein wenig an den Beistand ihrer Nächsten glaubend, ohne diesen je einzufordern. Sie blieb ihr Leben lang eine, die mit Leidenschaft für Gerechtigkeit eintrat, Wahrheiten oft zurecht beim Namen nannte und sich nicht dem Trott der Mitläufer anpasste. Sie handelte, wo andere redeten oder tuschelten.
Irmgard Haferkorn wurde am 4.4.1925 als dritte von sechs Töchtern einer Knauthainer Arbeiterfamilie geboren. Nach acht Schuljahren, mit guten Leistungen beendet, war sie bis Ende 1945 in der Hauswirtschaftslehre, zuerst in Engelsdorf, später beim Bäcker Otto Schumann in der Leipzig-Knautkleeberger Seumestr.79. Das bedeutete Brot und Überleben der Familie während des zweiten Weltkrieges und der Gefangenschaft des Vaters. Im November 1944 starb mit der älteren Schwester Ursula ihre nächste Bezugsperson in der Familie.
Am 10.6.1948 begegnete sie am Knauthainer Stausee ihrem Heinz, zog noch 1948 zu ihm und seinen Eltern nach Leipzig-Lindenau und lebte mit ihm zunächst über 9 Jahre in einem 10 qm großen Zimmer.
Von 1946 bis September 1953 war sie Druckereihelferin u.a. bei Carl Marquart, Dr. Karl Meyer und J.Bohn & Sohn in Leipzig. 1952 trat sie aus der SED, deren Mitglied sie aus Überzeugung geworden war, wieder aus – wie sie immer sagte: aus Überzeugung.
Ab September 1953 war sie Zuschneiderin in der Leipziger Lederbranche bei A.verw.Pilz.
Am 6.2.1957 wurde ihr einziges Kind Heinz geboren und da schon 1955 der Schwiegervater Rudolf Gäbler an Tuberkulose gestorben war, tauschten Irmgard & Heinz & Heinz ihr Zimmer mit den zwei etwas größeren Räumen der Schwiegermutter Margarete. Eine Fehlgeburt 1961 und ihre in den 60er Jahren regelmäßig wiederkehrende Wundrose überstand Irmgard gut.
Das Verhältnis zu ihren Eltern war eher pflichtgemäß als herzlich. Irmgards Mutter Charlotte starb 1965 in Leipzig-Großzschocher plötzlich an Herzversagen und ihr Vater Gustav 1974 in Bad Elster infolge eines Schlaganfalles, nachdem er mit seiner zweiten Frau Ruth Stiller geb. Lamm (1921-1982 / “die Färßsche” – für den Nichtsachsen: das ist ein Pfirsich und hat was mit der Erscheinung der Dame zu tun: rosa Haut, rund und für den Gustav fast ein wenig zu gesund) ins vogtländische Saalig gezogen war. Die Schwiegermutter Margarete lebte noch bis 1973 in der gemeinsamen Wohnung und zog dann ins Feierabendheim Miltitz bzw. ins heutige DRK-Alten- und Pflegeheim Leipzig-Grünau, wo sie 1985 noch ihren 92. Geburtstag feierte.
1965 war Irmgards Arbeitsstelle aufgrund staatlicher Maßnahmen zur PGH Koffer- und Lederwaren geworden. Sie beendete ihre überaus erfolgreiche und anerkannte Arbeit dort Ende 1969 einmal mehr aus einer Erkenntnis heraus: sie wollte die Heuchelei und Falschheit einzelner Kollegen nicht mehr tolerieren.
Im April 1970 begann Irmgard ihre neue Tätigkeit als Büglerin und später als Textilreinigungsfacharbeiterin bei der PGH Deutsch-Sowjetische Freundschaft Gebrauchsgüter und Dienstleistungen, wo sie bis zum Erreichen des Rentenalters von 60 Jahren arbeitete. Mit 48 bekam sie dort ihren ersten Facharbeiterbrief.
Noch 1970 führte Irmgards erster Auslandsaufenthalt mit dem Arbeitskollektiv, aus dem Kultur- und Sozialfonds der PGH bezahlt, drei Tage nach Prag.
Der erste richtige Familienurlaub, also nicht nur Fahrradausflüge nach Köttichau, in den Garten einer ihrer Schwestern, zum Bienitz und eintägige Bahntouren nach Grimma oder Halle, fand erst 1977 in Glowe auf Rügen statt. 1979 ging´s noch mal nach Glowe und 1980 zum letzten Mal gemeinsam mit Partner und Sohn nach Kirchdorf auf Poel.
1978 starb die älteste Schwester Helvetia Zorn kurz nach deren 56.Geburtstag.
1982 hatte Irmgards Partner den ersten Herzinfarkt, ging in Invalidenrente und gab sich fortan so kränklich, dass an größere gemeinsame Unternehmungen nicht mehr zu denken war.
1986 fuhr sie mit Nichte Gabi 14 Tage ans bulgarische Schwarze Meer. Irmgard schaffte sich dann einen Garten an, um etwas in der Natur sein zu können und Abwechslung zu haben – sie sagte immer, sie bräuchte Ausarbeitung. So entstand aus Äpfeln, Kirschen und allerlei Beeren, per Fahrrad oder im Handwagen nach Hause befördert, schnell mal ein halber Keller voll Saftflaschen – leckeres Zeug.
Mit dem Gartennachbar Werner Gottschalk (1941-2001), gleichzeitig Ex einer anderen Nichte, hatte sie zu jener Zeit einige schöne Stunden zu zweit, ohne jemals auch nur daran zu denken, ihren Partner Heinz zu verlassen. Und oft genug ging sie mit Sohn Heinz und dessen Freund ins Theater, auf Tagestouren, einfach nur spazieren oder sie trafen sich zu abendlichen Gesellschaftsspielen bei einem Fläschchen Wein. Das waren dann immer kleine Pausen von der ständigen Sorge um ihren Partner Heinz und vom Alltag.
1989 erkrankte Irmgard an Brustkrebs und wurde 1989, 1990 und 1997 erfolgreich operiert. Dazu kam im Mai 1994 ein schwerer Fahrradunfall mit hohem Blutverlust und anschließendem Krankenhausaufenthalt. Doch sie hatte auch nach diesen Gesundheitsattacken noch Kraft für drei oder gab es zumindest vor.
Als sie Heinz wegen dessen Pflegebedürftigkeit kaum noch allein lassen konnte, gab sie den Garten und manche andere Freizeitfreude für ihn auf. Die Wohnung, noch mit Ofenheizung in der 3.Etage, ohne Bad und mit Außen-WC wurde immer mehr zur Last. Irmgard, Heinz jr. und Stieven suchten nach einer neuen Bleibe und fanden sie nur 100 Meter entfernt: zwei frisch instandgesetzte Wohnungen ab Ende 1994.
1995 heiratete Irmgard nach über 47 gemeinsamen Jahren ihren Heinz, ohne Namensänderung und nur wegen der Rente – für den, der einmal allein bleiben würde. Ab Ende der 90er Jahre bewies sie ihre Uneigennützigkeit bei der immer aufwändigeren Pflege ihres Mannes, der an ihrem 78.Geburtstag im Krankenhaus verstarb. Seine letzte Stunde verbrachten beide gemeinsam.
Danach war Erholung von den Strapazen angesagt, z.B. 2004 mit “ihren Jungs” in Ko?obrzeg an der polnischen Ostseeküste.
2005 wurde ihr 80.Geburtstag mit der ganzen Familie begangen. Sie sagte damals, von vielen wohl unverstanden, dass das ihre letzte große Feier sei.
Ein reichliches Jahr später wurde ein stark metastasierender, nicht therapierbarer Magenkrebs diagnostiziert. Sie wollte nicht mehr leiden und nicht mehr für ihr Leben kämpfen und starb schon 6 Wochen nach der Diagnose am 30.8.2006, 8 Stunden nach ihrer erneuten Krankenhauseinlieferung.
Nie wollte sie, wem auch immer, zur Last fallen – nie pflegebedürftig sein. Leben war für sie agieren, beweglich sein, für ihre Nächsten da zu sein. Wenn das einmal nicht mehr möglich sei, dann werde sie ungesagt und leise gehen – das hatte sie Jahre zuvor gesagt.
Nur 4 Tage nach ihr starb ihr Schwager Arthur Gäbler in Hohenmölsen, mit dem sie sich über viele Jahrzehnte geistig sehr verbunden gefühlt hatte – sie erfuhr kurz vor ihrem Tod, dass er im Sterben lag. In den 50er und 60er Jahren hatte sie oft tatkräftig bei Schlachtfesten seiner Familie in Köttichau geholfen.
Die Trauerfeier für Irmgard war am 25.9.2006 auf dem Friedhof Leipzig-Lindenau. Es sprach Michael Hoppe im Auftrag des Bestattungsinstitutes Abenia. Albrecht Dietl (1931-2009), der Kirchenmusikdirektor von Altenburg a.D. und sozusagen Schwiegervater des Sohnes Heinz, spielte auf der Orgel.
An ihrem Grab trauerten:
Sohn Heinz und Stieven,
ihre Schwestern Lenina Mädel (1926-2009), Sylvia Berthel und Margarete Ettrich,
die Schwager Harry und Manfred,
ihre Nichten und Neffen Günter, Regina, Ursula, Gabriele, Dorothea, Veronika, Jörg und Waltraud,
sowie Gottfried, Erwin (1930-2012), Dagmar, Manfred, Beatrice, Norman, Diana, Thomas und Sabine als deren Partner bzw. Kinder,
Ingrid Eger, Sven Handschick, Diana Hesselbarth und ein paar Tage später Dietmar und Sybille Röper als Nachbarn,
die frühere Arbeitskollegin Regina Schuchert,
sowie Rolf Michel, Lutz Wagner, Eckhard Gabor, Jörg Behnisch, Frieder Krause, Dr.Jürgen Clauß und Wolfgang Neumann (Freunde).
Ihr Beileid übermittelten außerdem Cousin Gerhard aus Leipzig-Sellerhausen, Cousine Edith aus Mordialloc (Victoria/Australien), Neffe Peter und Familie aus Simmerath, Margrit Buhr aus Arnstadt, Gerhard Eggert aus Sondershausen, Bernhard Dietl mit Familie aus Meiningen, Ingeborg und Ludwig Prautzsch aus Kassel, Christiane, Claudia und Reinhold Buhr aus Esslingen, Katrin und Georg Nattermann aus Herpf, Brigitte und Wolfgang Tautenhahn aus Weimar, Familie Kensing aus Leipzig-Eutritzsch, die ehemaligen Nachbarinnen Gertrud Stachura und Heidrun Kühn, die früheren Arbeitskolleginnen Edeltraud Badock, Edith Reimann, Gerda Pusch, Ilona Keil und Werra Gißrau, die Ärztinnen Dr.Helga Richter und Sybille Busch-Bendig, sowie die Bekannten Bettyna Taube und Bärbel Händler.
H.H.






Schwester Sylvia zum 75.Geburtstag am 4.4.2000 (Feier “Zur Weißen Elster”):

“Liebe Irmgard!
Von den Kindern unsrer Eltern warst du die dritte.
Heute bist du die Erste in unserer Mitte.
[Erste zu sein bedeutet viel.]
Ein bisschen von früher soll hier anklingen.
Dass Du vor allen Dingen uns Schwestern warst
ein Fels in der Brandung
und das meistens bei ´ner Bruchlandung.
So hast Du uns in Knauthain in den schlimmen Hungerjahren
versorgt mit Lebensmitteln, organisiert unter großen Gefahren.
Dein starker Charakter ist hervorzuheben.
Du warst immer stark im Geben
von Güte, Kameradschaft und Freude spenden.
Wenn du kamst, dann nicht mit leeren Händen.
Weißt du noch? Es war Krieg und Knauthain erlebte den Fliegerangriff, den großen
und Marga machte sich vor Angst bald in die Hosen –
du hast die Tür vom Gewölbe gehalten –
so stark warst du. Alle anderen hatten Sorgenfalten,
denn es brannte die Scheune mit den Kohlen lichterloh
und der Flink, der arme Hund, der floh.
Das Pferd, der Hans, kam aus Angst in die Haustür ran,
der dachte sicher: weiter nichts wie weg hier, Mann!
Dann kam Frau Rusch ganz aufgeregt in das Gewölbe gestürzt
und rief vor Schrecken und ganz bestürzt.
Eine Stabbrandbombe durchschlug unsere Wohnung und steckte im Kleiderschrank –
Hilfe – ich werde noch ganz krank.
Jemand muss sie von dort wegschaffen,
sonst verbrennen nicht nur meine Sachen,
sondern es wird das ganze Haus anbrennen!
Wo sollen wir denn bloß hinrennen?
Beim Bauer Kretzschmar und Vogt brennen die Scheunen und Viehställe.
Es tobt eine schreckliche Angriffswelle!
Nichts blieb uns erspart in dieser schlimmen Nacht,
Frau Opitz suchte ihren Mann während der Bombenschlacht
und fand ihn kurz vor dem rettenden Bunker.
Es hatte ihn davor erwischt, er kam nicht mehr runter.
Der Luftdruck hatte ihm die Lunge zerfetzt,
das hat uns alle ganz entsetzt.
Wir hatten damit einen toten Nachbarn zu beklagen.
Man kann heute gar nicht mehr so genau sagen,
was in dieser Nacht geschah –
der Krieg war plötzlich bei uns, ganz nah.
Die Kirche brannte lichterloh, es war ein schönes Schauspiel,
solange, bis der Dachstuhl in sich zusammenfiel.
Es war kalt, denn es war ein harter Winter,
nicht nur Mama fror, nein auch wir Kinder.
Zwar gab es Bezugscheine für Kleider, Schuhe und Kohlen.
Wir mussten uns auf den Weg machen, um zusätzlich etwas zu holen.
Doch damit nicht genug, es musste auch etwas zum Feuern her,
unser Kohlenstall war immer leer.
Aus heutiger Sicht wären wir bescheuert gewesen,
hätten wir im Hof nicht immer ein paar Kohlen aufgelesen,
um uns am Leben zu erhalten in dieser Jahreszeit, der elend kalten.
Du warst dabei eine ganz großartige Frau!
Du ersetztest zwei Männer, ja ganz genau.
Tapfer warst du, kühn und stark, um uns über die Runden zu bringen,
mit deinem hohen Verantwortungsgefühl vor allen Dingen,
hast für uns gesorgt, warst immer nett –
dabei hattest du das mieseste Bett.
Es stand an der Wand, es glitzerte der Salpeter
Und, das weiß wohl heute jeder,
dass ein feuchtes Federbett keine wohlige Wärme verbreitet.
Allzu große Sorgen hat uns das damals nicht bereitet.
Auf der Ofenplatte erhitzten wir rote Ziegelsteine,
wickelte sie in Zeitung ein und wärmten unsere Beine.
Immer hast du gesorgt wie ein Haushaltsvorstand
Und hieltest zusammen das Familienband.
Die Zeit ging weiter, der Krieg war dann bald aus
und eines Tages kam der Papa nach Haus.
Wir waren es gar nicht mehr gewöhnt, einen Mann im Haus zu haben.
Es kam, wie es kommen musste – wir mussten traben.
Seine Befehle ausführen, Kaninchen füttern, Feld umgraben,
um zusätzlich etwas zum Essen zu haben.
Irgendwann warst du nicht mehr da.
Wo warst du denn? Warst weit weg oder nah?
Mein Gedächtnis reicht nicht so weit.
Es kam dann die Zeit, aus dem Mädchen ward eine Frau.
Der Lauf der Natur ist bei Tier und Mensch ganz genau
so, dass die Liebe die große Rolle spielt
und ein Liebster den Mädchen das Herze stiehlt.
Auch du warst verliebt bis hinter beide Ohren,
den Heinz Gäbler hattest du dir auserkoren.
Es ging dann ganz schnell – du zogst aus
aus dem Wetzelweg 36-Haus.
Lützner Str.72 war dein neues Domizil,
auch wenn der Papa aus allen Wolken fiel.
Für dich fing ein ganz neues Leben an,
der Heinz dich ganz für sich gewann.
Er machte einen neuen Typ aus dir –
du bist jetzt in der Stadt hier bei mir,
du musst eine andere Kleidung tragen,
den Gürtel eng in der Taille schnüren,
Lippen- und Augenbrauenstift musst du geschwungen führen –
so hörtest du ihn immer sagen.
Das aber ließ dich nicht davon abhalten,
auch hier in der Stadt all deine Fähigkeiten zu entfalten.
Du hast fleißig gearbeitet und schönes Geld erworben,
warst glücklich, hattest auch manchmal Sorgen,
mit viel Elan und Schwung hast du dein Bestes gegeben,
einen schönen Inhalt zu schaffen in deinem neuen Leben.
Gern wolltest du ein Kind gebären,
um auch als Mutter dich zu bewähren.
Als dann dein Sohn da war, stellte es sich
heraus – es ist ein Wunderkind.
Er lernte denken, lesen und rechnen ganz geschwind.
So verging das Leben in Windeseile –
Deine Lebensstationen, Meile um Meile,
hast du hinter dir gelassen,
ja und ich kann es manchmal kaum fassen.
Wir sind jetzt Rentner, fast schon alte Leute –
trotzdem passt du noch immer in das Jetzt und Heute.
So, und nun möchte ich zum Schlusse kommen,
sonst wirst du mir noch ganz benommen.
Gut finde ich, dass wir hier beisammen sind
Und feiern mit dem Geburtstagskind.
Wir wünschen, dass es dir und deiner Familie immer gut geht,
darum bitte ein jeder sein Glas erhebt!
Ein Hoch dem Jubilar –
Viel Freude, Frohsinn und Optimismus
wünschen wir bis zum 100. Jahr.”





Sohn Heinz zum 80.Geburtstag am 4.4.2005 (Feier “Zur Ratte”):

“Gustav und Lotte kannten sich schon als Kinder
und spielten früh nicht mehr nur mit Ball oder Hund.
Mit 21 getraut – gab´s schon zwei Mädels,
ehelich sollt´s endlich ein Knabe sein im Bund.

April 25 – Samstagabend nach acht
kam Adebar über die Uni geflogen.
Vater Gustav enttäuscht gab bekannt über Nacht:
Dann wird sie eben wie ein Junge erzogen.

Vom Anger nach Knauthain, die Kohle war das Ziel,
fünf Schwestern hatte die Irmgard mit 7,
Schule, Existenz sichernde Arbeit statt Spiel
und für Vater hat sie Flugblätter vertrieben.

Er – Nazigegner, im KZ, später im Krieg,
du – eines Teiles deiner Jugend bestohlen.
Der Restfamilie halfst du zum täglichen Sieg
durch Kraft, Herzensgüte, durch Brot oder Kohlen.

Krieg in Knauthain – du sahst den Kirchturm in Flammen,
löschtest mit and´ren Kohlebunker und Bleibe,
bargst Leichenteile des Opitz´ von nebenan,
brachtest Bäcker Schumanns Backwerk und Brotlaibe.

Vor Ende vom Reich der Nazis und Konzerne
reichte einmal auch deine Kraft nicht zu geben.
Deine Schwester, schwanger, zurück aus der Ferne,
war plötzlich tot – das Schlimmste für dich im Leben.

Der Wahnsinn vorbei – fünf Mädchen waren flügge
zu starten in das Leben nach so viel Pause.
Du trafst zu deinem, sagen wir heut´ mal, Glücke
Juni 48 den Gäbler am Stausee.

Der Heinz, sehr umsichtig, feinfühlig, verschlossen,
zuweilen berechnend, kannte manches Madel,
wollte die Eine – für sich allein gegossen.
Sie bestand die Unschuldsprüfung ohne Tadel.

Gelockt, freiwillig, ein wenig auch verstoßen
kamst du nach Lindenau. Hollywood-Wimpernlack,
geiles Outfit – das hat er an dir genossen.
Die Umgebung aber war von anderem Schlag.

Wohnung seiner Eltern – Zehn-Quadratmeter-Reich,
an der Wand Wanzen, Ratten im Hof, doch zu zwei´n.
Er – Graf von Lindenau, du Königinnen gleich,
meinte er, solltet ihr vor der Welt erscheinen.

Freizeit, das war nun Freizeit mit Heinz – Fahrrad fahr´n
Kilometer weit um Leipzig, fast schwerelos,
zum Tanz in den Felsenkeller und in die Bar,
es war die Zeit der Sternchen, manchmal ohne Moos.

Näher der Realität schrubbtest du Dielen
und überlange Schichten in der Arbeitswelt,
kauftest Geschirr, Kleidung, neuen Tisch und Stühle,
perfekte Hausfrau, nicht zu bezahlen mit Geld.

Besorgtest Markranstädts Kindern was zum Beißen,
warst Helfer im Dörfchen Köttichau beim Schlachtfest,
bliebst bei den Nichten, wenn die Eltern verreisten,
du machtest alle zufrieden im trauten Nest.

Juni 56, ein Minütchen zu zweit
hatte Folgen, du brauchtest nur acht Monate –
dem Kleinen konnt´ zu Hause geschehen kein Leid –
Bessie, Zwergpolarspitzin, war auf der Matte.

Das kleine Söhnchen hast du zum Heinz gemacht, – einst
als Name nicht aktuell, heut´ gleich dem August.
Er war nun in deinem Dasein die Nummer 1,
dem „großen“ Heinz war die Rolle noch nicht bewusst.

Du verdientest wieder bei Pilz oder Pröse
recht gutes Geld, was später beim Ausgeben freut.
Der Sohn kam zur Schule, du warst drum nicht böse –
von Oma Gäbler oft früh und mittags betreut.

Freizeit, das war nun oft Freizeit zu dritt – Rad fahr´n,
nicht immer war´n sich deine Kerls einig – wohin,
Ausflüge nach Berlin oder Thale per Bahn,
Feiern und Spiele um Verlust und Gewinn.

19-70 – Abschied von der Zuschneiderei,
PGH, Zeit der Diebe, nicht mehr dein Milieu.
Nun Bügeltisch in chemischer Reinigerei,
du hattest bald mehr noch in deinem Portmonee.

Im gleichen Jahr noch der Betriebsausflug nach Prag,
schief hing da der Haussegen alter Gewohnheit.
Man kann nicht freudig zusammen sein Tag für Tag,
wenn es nur Pflicht ist, für den ander´n nur Freiheit.

Facharbeiter für Textilreinigung lerntest
du mit Ende 40 – Aufgaben und Fragen.
Zukunft – damals in dem Land planbar, erntetest
mehr Arbeit, mehr Verantwortung, mehr zu sagen.

Fünfzigster Geburtstag – alle feierten mit.
Kollegen, Verwandte, zum letzten Mal Hella,
paar Wochen danach auch zu Heinz´ Abi-Ball fit,
der Blickfang – das Dekoll´tee im Kleid aus Brokat.

Freizeit, das war noch Freizeit in Familie,
dreimal an die Ostsee, der Sohn war noch dabei.
Rügen und Poel, mit dem Zug zur Strandlilie –
paar Tage aufleben vom Alltagsallerlei.

82 – des Partners Krankheit wurd´ schlimmer,
Griesgram, Mittelpunkt seines Horizonts im Nu.
Sohn lud schon einmal einen Mann in sein Zimmer,
ganz und doch gar nicht verteufelt, Puffer warst du.

Ein Jahr danach – eine Wohnung im Haus war frei,
Feierabendbrigaden für dein Geld beschafft,
schnell taten sie das Nötigste und eins-zwei-drei
Sohn Heinz zog ein, auch Stieven war nicht mehr nur Gast.

Mit sechzig in Rente, doch längst nicht in Ruhe,
mit Gabi am Schwarzen Meer – English Man dein Scheich? ,
zu Hause in Leipzig erfolgreiche Suche
nach einem Garten, dem eigenen grünen Reich.

Gartennachbar, Bekannter, nennen wir ihn mal W,
so alt wie du damals warst, das wurde er nie,
heimliche Treffen, Rad fahr´n bis zum Auensee,
hier in Leipzig ein wenig Lady Chatterley.

Heimlich hieß aber nicht ganz einsam vor der Welt,
die beiden – du sagst heut noch „Jungs“ – wussten Bescheid.
Sie gönnten dir´s, denn auch wenn du gern warst der Held,
brauchtest du diese Beziehung zu jener Zeit.

Krankheit folgte und Unfall und noch mal Krankheit,
alles überstanden und nun schon Geschichte.
Die D-Mark war da und gute Gelegenheit,
dass man sich eine neue Wohnung einrichte.

Siebzigster Geburtstag – in den neuen Zimmern,
kein Kohleschleppen mehr, ein Bad, Innen-WC.
Nur das Bankkonto hörte man leise wimmern:
Wie bezahlt der das, der den Partner überlebt?

Wieder mal hieß es für dich, munter angepackt.
Die Probleme sind da, um gelöst zu werden.
Mit über 70 nicht im Brautkleid, nicht im Frack,
ja sagen reicht um eine Rente zu erben.

75, Weiße Elster, Jahr 2000
lange geplant, mit Kahnfahrt, über dreißig Mann,
du zwischendurch nach Hause zum Manne sausend –
der inzwischen nur noch mit Pflege leben kann.

Es folgten drei Jahre Müh´, manche halfen dir
und doch waren die Grenzen deiner Kraft jetzt da.
Nach dem Geburtstag ein letztes Mal er mit dir,
vertraut wie einst, am Ende wart ihr euch sehr nah.

Freizeit war plötzlich viel Freiheit, doch oft allein
vor der Glotze, zum Friedhof, einkaufen, ins Bett.
Du warst nicht gewohnt, zu Hause solo zu sein,
doch zuweilen findest du es auch schon ganz nett.

Kochst noch oft, na fast immer, für Sohn und Stieven,
manch´ Rettungsring war in deinem Topf ein Stück Schwein.
Beim Essen beredet man Höhen und Tiefen,
manchmal meckern die zwei wie einst einer allein.

2004 – Schuljubiläum in Knauthain,
davor eine Woche mit den „Jungs“ an der See.
2005 – mit achtzig muss man nicht alt sein,
man muss nur viel hüpfen, tut die Haxe mal weh.

Das war die Lebensstory von dir – erster Teil –
bist keine Krankenschwester, nicht Frau Aznavour,
hast dieses Stück Leben gemeistert, noch ganz heil –
Teil 2 folgt in zehn Jahren auf der Lebenstour.”

(Diesen Text las meine Mutter oft seit ihrem 80.Geburtstag und begriff ihn als ihre Würdigung, als die er auch gedacht war.)

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7 Kommentare

  1. Während dieser Tage denke ich besonders oft an meine Schwiegermutter Irmgard. Wie gern hätte ich den 85. Geburtstag am 4.4.2010 mit gefeiert. Ihre ansteckende Lebensfreude werde ich nicht vergessen.

  2. Am 4.4.2010 wäre der 85.Geburtstag meiner Mutter gefeiert wurden.
    Sie wirkte jünger und wollte immer 90 werden. Sie hat es leider nicht geschafft. 9 Tage vor ihrem Tod bat sie beim letzten Besuch ihre Ärztin, dass es nun wenigstens noch 85 werden sollen – vielleicht auch nur, weil ich dabei war. Niemand sollte sie hilflos und leidend sehen.
    Wir denken sehr oft an sie.

  3. Liebe Irmgard,
    wir werden Dich nie vergessen. Du warst eine tolle Frau. Wo auch immer Du jetzt bist, möge es Dir gut gehen.

    Von Herzen
    Christiane mit Reinhold und Claudia

  4. Nach einer Zeit der Tränen und der tiefen Trauer bleibt die Erinnerung. Die Erinnerung ist unsterblich und gibt uns Trost und Kraft.

    In Liebe Deine Beatrice 🙂

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